Gestern Abend fand im ausgebuchten Saal eine eindrucksvolle und aufschlussreiche Veranstaltung statt, die einen tiefgehenden Blick auf die Situation der uigurischen Bevölkerung in der chinesischen Region Xinjiang gewährte. Der Vortrag von Dr. Rune Steenberg, „Masseninternierung, Zwangsassimilierung und Siedlungskolonialismus. Die Uiguren unter chinesischer Herrschaft“, bot den Anwesenden nicht nur eine detaillierte Analyse der aktuellen Repressionen, sondern auch eine tiefere philosophische Reflexion über die Rolle der Wissenschaft in der Förderung globaler Gerechtigkeit.

Dr. Rune Steenberg: Anthropologe mit globaler Verantwortung
Dr. Rune Steenberg ist Anthropologe und Spezialist für die uigurische Volksgruppe sowie für die Entwicklungen im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang. Er leitet ein EU-finanziertes Forschungsprojekt zur Region am Institut für Asienstudien der Palacky-Universität Olmütz und ist dort als Marie Curie Fellow tätig. Durch jahrelange Feldstudien in China, Zentralasien und Indonesien hat Steenberg nicht nur tiefgehende Einblicke in die Kultur und Geschichte der Uiguren gewonnen, sondern auch zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zu Themen wie Heirat, Grenzhandel, Informalität, Korruption und Diasporaaktivismus veröffentlicht.

In seinem Vortrag stellte Steenberg zunächst klar: Wissenschaftlichkeit und globale Gerechtigkeit seien für ihn untrennbar miteinander verknüpft. „Die Aufgabe der Wissenschaft geht über das bloße Beobachten hinaus. Sie muss auch die Verantwortung übernehmen, gesellschaftliche Missstände zu benennen und aktiv zur globalen Gerechtigkeit beizutragen“, erklärte Steenberg zu Beginn seiner Ausführungen. Für ihn sei es ein moralisches Gebot, sich mit den schweren Menschenrechtsverletzungen gegen die Uiguren auseinanderzusetzen und internationale Druckmittel zu mobilisieren, um ein Ende dieser Repressionen zu erreichen.

Masseninternierung und Zwangsassimilierung: Die chinesische Strategie
Steenberg beleuchtete in seiner Analyse die umfassende und systematische Unterdrückung der Uiguren durch die chinesische Regierung. Zentraler Bestandteil der repressiven Politik sei die Masseninternierung von Uiguren in sogenannten „Umerziehungslagern“, die laut offizieller Darstellung als „Bildungseinrichtungen“ verkauft werden, in Wahrheit jedoch Orte der Zwangsassimilierung und Entmenschlichung seien.

„Diese Lager sind nicht nur ein Werkzeug der politischen Kontrolle, sondern ein Versuch, die uigurische Kultur, Religion und Identität gewaltsam auszulöschen“, sagte Steenberg. „Die chinesische Regierung verfolgt eine Politik der Zwangsassimilierung, bei der Uiguren gezwungen werden, ihre religiösen Praktiken aufzugeben, ihre Sprache zu vergessen und sich vollständig der han-chinesischen Kultur zu unterwerfen.“ Dies sei ein klarer Fall von kulturellem Völkermord, betonte Steenberg, und ein Verstoß gegen die fundamentalen Prinzipien der Menschenrechte.
Ein weiterer Aspekt, den Steenberg hervorhob, war der „Siedlungskolonialismus“: Chinesische Migranten würden gezielt in die Region verlegt, um die ethnische Zusammensetzung zu verändern und die uigurische Identität weiter zu schwächen. „Dies ist ein langfristiger Plan, der darauf abzielt, die Region Xinjiang in einen chinesischen Siedlungsraum umzuwandeln und die Uiguren als Minderheit zu verdrängen“, erklärte der Anthropologe.

Persönliche Erfahrungen: Ein Zeitzeuge berichtet
Ein emotionaler Höhepunkt des Abends war der Vortrag eines Zeitzeugen, der aus eigener Erfahrung berichtete, wie er selbst von den Repressionen in der Region betroffen war.
Der Gast, Sinan Coban, der erst im vergangenen Jahr in Xinjiang war, gab den Zuhörern einen sehr persönlichen und eindrucksvollen Einblick in die Realität der Unterdrückung der Uiguren. „Sie leben in ständiger Angst. Wenn du ein Uigure bist, bist du immer ein Ziel der Überwachung. Du kannst nichts tun, ohne dass die Regierung dich beobachtet“, sagte Coban.

Seine Schilderungen machten das Leid der Uiguren greifbar und verdeutlichten die psychischen und physischen Folgen der jahrelangen Repressionen, die sich nicht nur auf die Inhaftierung der Uiguren selbst, sondern auch auf ihre Familien auswirken. Besonders erschütternd war der Bericht über die Zerstörung von Familienstrukturen, deren Mitglieder oft ohne Erklärung in die Lager verschleppt und über Jahre hinweg isoliert werden. „Viele Menschen sind verschwunden, ohne dass ihre Familien wissen, ob sie noch leben“.
Diese persönliche Erfahrung verdeutlichte die tragische Realität der Uiguren und brachte den Zuhörern auf eindrucksvolle Weise die erschreckenden Auswirkungen der Repressionen nahe.
Yunus Semerci, Sprecher des Regionalverbands und Beauftragter für Öffentlichkeitsarbeit, sagte zu Beginn der Veranstaltung: „Ich freue mich, dass wir mit Dr. Rune Steenberg einen Experten gewonnen haben, der uns die historischen und politischen Zusammenhänge verständlich machen wird. Ich bin dankbar, dass wir im Laufe des Abends auch einem Zeitzeugen begegnen werden, der seine persönliche Geschichte mit uns teilt. Seine Geschichte steht stellvertretend für viele andere, die keine Stimme haben.“

Nuriddin Abduljelil, Gründer und Vorsitzender der Hilfsorganisation Help Uyghur e. V., sprach nach Yunus Semerci und bedankte sich herzlich bei der IGMG für die Kooperation. Er stellte die Ziele und Projekte seines Vereins vor, die sich für die Unterstützung der uigurischen Bevölkerung einsetzen und auf die katastrophale Lage in Xinjiang aufmerksam machen. „Unsere Arbeit ist von zentraler Bedeutung, um die Welt über das Leid der Uiguren zu informieren und praktische Hilfe zu leisten. Aber auch die Aufklärung und der Dialog sind entscheidend, um die internationalen Bemühungen für den Schutz der Uiguren zu verstärken“, erklärte Nuriddin Abduljelil.

Globale Verantwortung und der Aufruf zum Handeln
Abschließend sprach Steenberg die internationale Verantwortung an und unterstrich die Notwendigkeit eines entschlossenen und vereinten Handelns gegen diese Menschenrechtsverletzungen. „Wissenschaft muss mit einer ethischen Verantwortung verbunden sein. Der Kampf gegen die Unterdrückung der Uiguren ist nicht nur ein lokales Problem, sondern ein globales“, sagte er. Die Weltgemeinschaft müsse stärker auf diese Repressionen aufmerksam machen und konkrete Maßnahmen ergreifen, um die chinesische Regierung unter Druck zu setzen.
„Der Fall der Uiguren sollte uns alle betreffen. Menschenrechte sind universell, und es ist unsere Pflicht, uns für deren Schutz einzusetzen“, so Steenberg.
Fazit: Ein dringender Aufruf zur globalen Solidarität
Die Veranstaltung war nicht nur eine wissenschaftliche Analyse der Situation der Uiguren, sondern auch ein emotionaler Aufruf zur Solidarität und Verantwortung. Dr. Rune Steenberg zeigte auf, wie eng die Welt der Wissenschaft mit den großen globalen Herausforderungen von Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit verbunden ist. Seine Expertise und seine klare Position, dass Wissenschaft und globale Gerechtigkeit untrennbar miteinander verknüpft sind, regten die Anwesenden dazu an, über die Bedeutung von Menschenrechten und internationaler Verantwortung nachzudenken.

Die Veranstaltung in Neuss war ein wichtiger Schritt, um das Thema der uigurischen Unterdrückung weiter ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und die dringende Notwendigkeit zu unterstreichen, dass sich die internationale Gemeinschaft stärker für den Schutz der Uiguren und anderer unterdrückter Gruppen einsetzt.